#2: Planen nach Muster-Industriebau-Richtlinie | Im Gespräch mit Dr. Jürgen Wiese
Shownotes
Über die Folge: Dr. Jürgen Wiese hat jahrzehntelange Erfahrung im Brandschutz. Bei der Sachverständigenpartnerschaft Halfkann und Kirchner das Sachgebiet Fire-Engineering war er als wissenschaftlicher Leiter tätig. Er engagiert sich ehrenamtlich in einer Vielzahl von Gremien, ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen und als Referent tätig.
Die Muster-Richtlinie über den baulichen Brandschutz im Industriebau (Muster-Industriebau-Richtlinie, kurz: MIndBauRL) ist ein wichtiges Werkzeug für die Planung im Industriebau. Die aktuell gültige Fassung wurde 2019 veröffentlicht. Die Industriebaurichtlinien der Bundesländer basieren auf dem Inhalt der Muster-Richtlinie, können jedoch länderspezifische Abweichungen enthalten.
In dieser Folge erläutert Dr. Wiese im Gespräch mit André Gesellchen den Aufbau und Anwendungsbereich der Muster-Industriebau-Richtlinie mit Hinblick auf die historische Entwicklung des Brandschutzes im Industriebau. Weiterhin geht es um die verschiedenen Verfahren zur Planung, die Bedeutung von Brandlasten bei Industriebauten sowie häufige Fehlerquellen in der Anwendung der Richtlinie. Auch die Flexibilität der Muster-Industriebau-Richtlinie wird thematisiert.
Außerdem geht Dr. Wiese Fragen nach, wie die Richtlinie den sich ändernden Anforderungen der Industrie gerecht werden kann, wie die zukünftige Entwicklung beim Brandschutz im Industriebau aussehen kann und welche internationalen Ansätze es gibt.
Über den Podcast: Chefredakteur André Gesellchen spricht mit führenden Fachleuten über aktuelle Herausforderungen und innovative Lösungen im Brandschutz. Ob neue Vorschriften, technologische Trends oder bewährte Maßnahmen – wir gehen den Fragen nach, die die Branche bewegen. Sie erhalten spannende Einblicke und praxisnahe Tipps, um Leben zu retten und Sachwerte zu schützen.
In Staffel 1 sprechen wir in 6 Folgen mit verschiedenen Expertinnen und Experten über den Brandschutz im Industriebau.
Werbepartner: Staffel 1 wird unterstützt von Hekatron, Ihrem Lösungsanbieter im anlagentechnischen Brandschutz: https://www.hekatron.de
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Intro: Hier ist FeuerTrutz On Air, der Podcast für den vorbeugenden Brandschutz. Diese Staffel wird unterstützt von Hekatron, Ihrem Lösungsanbieter im anlagentechnischen Brandschutz.
André Gesellchen: Hallo und herzlich willkommen zu FeuerTrutz On Air, dem Podcast für den vorbeugenden Brandschutz. Heute mit einer weiteren Folge zu unserem Staffelthema Brandschutz im Industriebau. Mein Name ist André Gesellchen. Ich bin der Chefredakteur bei Feuertrotz und ich begrüße heute hier im Podcaststudio in Köln einen Gast, der sich in den letzten Jahrzehnten so intensiv mit dem Brandschutz im Industriebau auseinandergesetzt hat wie kaum ein zweiter: Dr. Jürgen Wiese. Mit ihm spreche ich heute über die Brandschutzplanung nach Muster-Industrie-Baurichtlinie. Herr Dr. Wiese, herzlich willkommen.
Dr. Jürgen Wiese: Ja, herzlich willkommen. Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, dass ich hier sein darf.
André Gesellchen: Ja, da freue ich mich auch sehr. Ich will Sie unseren Hörern kurz vorstellen. Sie haben in Braunschweig Bauingenieurwesen studiert, haben dort promoviert zum baulichen Brandschutz, waren dann lange Referatsleiter für vorbeugenden Brandschutz und Schadensverhütung bei VdS in Köln und sind dann 1997, das Jahr, in dem ich Abitur gemacht habe seinerzeit, zur Sachverständigenpartnerschaft Halfkann und Kirchner gewechselt. Dort haben Sie dann das Sachgebiet Fire Engineering als wissenschaftlicher Leiter betreut und waren unter anderem auch noch Lehrbeauftragter an der TU Kaiserslautern. Parallel sind Sie ganz vielen Menschen im Brandschutz bekannt, auch als jemand, der in ungezählten Vorträgen und Veröffentlichungen sein Fachwissen geteilt hat. Und hervorheben will ich da jetzt natürlich zum einen das umfangreiche Kapitel zum Industriebau im FeuerTrutz Brandschutzatlas und den Kommentar zur Muster-Industriebau-Richtlinie, der in zwei Auflagen bei FeuerTrutz erschienen ist, mit Ihrem Co-Autor Josef Mayer und der aus meiner Sicht so etwas wie ein Standardwerk geworden ist für den Brandschutz im Industriebau. Erklären Sie uns doch aber bitte mal, wie sind Sie zu dem Thema gekommen seinerzeit, also zum Brandschutz an sich? Warum haben Sie sich dafür interessiert und entschieden? Und wie ist dann dieser Fokus auf den Industriebau und die Ingenieurmethoden gekommen?
Dr. Jürgen Wiese: Ich habe in Braunschweig an der TU Bauingenieurwesen studiert und bekam im Anschluss daran am Institut für Baustoffe und Massivbau, wo auch der Brandschutz erforscht wurde, einen Arbeitsplatz und durfte dort zehn Jahre lang im Sonderforschungsbereich für Brandschutzfragen mitforschen. Seither hat mich das Thema Brandschutz nicht mehr losgelassen und ich bin im Anschluss an meine Braunschweiger Universitätszeit nach Köln gewechselt zum Verband der Sachversicherer und konnte da mein brandschutztechnisches Wissen für die Schadenverhütung einbringen und landete dort sehr sehr schnell beim industriellen Brandschutz. Von daher begleitet mich der Brandschutz für und im Industriebau seit Jahrzehnten.
André Gesellchen: Und was hat das Interesse geweckt? Als Bauingenieur kann man auch ganz viele andere Dinge machen, noch nicht mal unbedingt Brandschutz. Wie sind Sie da hingekommen zu diesem Fachgebiet?
Dr. Jürgen Wiese: Zum einen war es sicherlich auch eine ganze Portion Zufall. Ich wollte wissenschaftlich tätig werden, bekam das Angebot zu forschen im Bereich Massivbau und Brandschutz. Und so hat mich der Weg einfach über dieses Verlangen, forschungsmäßig aktiv zu werden, zum Brandschutz geführt. Vorher wusste ich eigentlich nichts, praktisch nichts, vom Brandschutz und bin dann eben durch die praktische Arbeit im Forschungsbereich am Brandschutz hängen geblieben.
André Gesellchen: Und dann haben Sie ja jahrzehntelang auch maßgeblich an der Entwicklung der Richtlinien in dem Bereich mitgewirkt. Und heute haben wir diese Muster-Industriebau-Richtlinie, die zum letzten Mal 2019 überarbeitet wurde, über die wir heute sprechen wollen. Können Sie vielleicht im ersten Schritt mal auf so einer ganz groben Ebene uns erklären, wie ist diese Richtlinie eigentlich aufgebaut?
Dr. Jürgen Wiese: Ja, das ist keine ganz einfache Frage, weil man muss da schon die Historie sich angucken. Die Industriebau-Richtlinie als solche war zunächst gar nicht erforderlich und sie hatte im Wesentlichen zunächst die Rolle eines Steigbügelhalters für die DIN 18230, mit der der bauliche Brandschutz berechenbar gemacht werden sollte. Dieses Rechenverfahren als Nachweismethode für bauaufsichtliche Zwecke stand ohne Industriebau-Richtlinie ziemlich allein in der Welt und überforderte die Behörden, die ja aufgrund von Rechtsvorschriften entscheiden mussten, ob eine Planung den rechtlichen Anforderungen entspricht oder nicht. Und man brauchte quasi ein bauaufsichtlich relevantes Papier, was den Behörden helfen konnte, die Überlegungen und die Nachweise, die mit der DIN 18230 im Zusammenhang stehen, im Bezug auf die bauordnungsrechtliche Relevanz zu prüfen.
André Gesellchen: Wie ist denn eigentlich der Anwendungsbereich der Industriebau-Richtlinie? Auf welche Gebäude ist sie überhaupt anzuwenden?
Dr. Jürgen Wiese: Die Industriebau-Richtlinie ist konzipiert für Industriebauten und das sind solche Gebäude, in denen planmäßig gelagert oder produziert wird. Die Muster-Industriebau-Richtlinie gilt für all solche Gebäude unabhängig von ihrer Flächengröße, also auch schon für ganz kleine Gebäude, in denen produziert und gelagert wird. Die einzelnen Länder gehen mit dem Anwendungsbereich aber durchaus unterschiedlich um. Einige Länder setzen den Anwendungsbereich so ein, wie er ursprünglich für die Industriebau-Richtlinie angedacht war, nämlich für große Industriebauten. Und da ist das Kriterium das Sonderbau-Kriterium der jeweiligen Landesbauordnung. Damit ist üblicherweise verbunden eine Minimumfläche von 1600 Quadratmeter als Brandabschnittsgröße. In Ländern wie Nordrhein-Westfalen besteht diese Mindestgröße nicht. Bei uns gilt die Industriebau-Richtlinie auch schon für kleinere Industriebauten, womit im Einzelfall besondere Schwierigkeiten oder Herausforderungen verbunden sind. Weil die Industriebau-Richtlinie grundsätzlich als Erleichterungswerkzeug konzipiert worden ist, mit dem man Regelanforderungen der Landesbauordnungen unterschreiten kann, gerade für große Industriebauten, musste man in der Industriebau-Richtlinie an bestimmten Stellen kompensatorisch Verschärfungen gegenüber den Regelanforderungen der Landesbauordnung einführen. Und das kann insbesondere bei den ganz kleinen Industriebauten, die beispielsweise in Nordrhein-Westfalen heranzuziehen sind, für Gebäude unterhalb von 1600 Quadratmetern durchaus eine schmerzliche Anforderung sein. Da muss man im Einzelfall argumentieren, weshalb man an der Stelle von der Industriebau-Richtlinie nach unten auch abweichen kann. Wir haben in den Kommentaren zur Industriebau-Richtlinie die Erläuterungen, die von der Projektgruppe erstellt worden sind, abgedruckt und da sind einzelne Hinweise zusammengefasst, nach denen man besondere Abweichungen begründen kann. Aber darauf jetzt hier im Einzelnen einzugehen, das würde der Sache nicht gerecht werden können.
André Gesellchen: Welche Verfahren bietet jetzt heute die Richtlinie, wenn wir zunächst mal an die Anforderungen an Baustoffe und Bauteile denken?
Dr. Jürgen Wiese: Ja, der Kern der Frage zielt auf die Feuerwiderstandsfähigkeit von Industriebauten ab. Und genau diese Frage wurde mit der Risikobewertung nach DIN 18230 strukturiert beurteilt. Dieses Verfahren ist unmittelbar in die Industriebau-Richtlinie übergegangen und bildete seit Jahrzehnten den Kern dieser Vorschrift. Im Zuge weiterer Überarbeitungen und Fortschreibungen des gesamten Regelwerks, der DIN 18230 auf der einen Seite und der Industriebau-Richtlinie auf der anderen Seite, wurde zum einen die Vielfalt der einzelnen Anforderungen unter bestimmten Kriterien neu überdacht und geregelt und dann auch zugeordnet den beiden verschiedenen Papieren. Und so hat man im Laufe der Zeit zunächst bauordnungsrechtliche Kriterien in Ergänzung des Rechenverfahrens in die DIN 18230 geschrieben und in späteren Jahren aus der DIN 18230 wieder herausgeholt und dorthin verpflanzt, wo sie bauordnungsrechtlich hingehören, nämlich in die Industriebau-Richtlinie. Und heute sieht die Richtlinie eben so aus, dass man vorneweg mal beschreibt, wofür die Richtlinie eigentlich da ist. Danach werden eine ganze Zahl von Begriffen definiert und schon kommt man in einen Abschnitt, in dem verschiedene Anwendungsverfahren beschrieben werden. Heute steht an erster Stelle ein vereinfachtes Verfahren, bei dem man auf das Rechenverfahren der DIN 18230 nicht zwingend zurückgreifen muss.
André Gesellchen: Das sogenannte Verfahren nach Abschnitt 6?
Dr. Jürgen Wiese: Richtig. Das Regelverfahren für die Baustoffe und Bauteile ist heute das Verfahren nach Abschnitt 7 und moderne risikobezogene Beurteilungsverfahren werden über den Anhang 1 mit den Methoden des Brandschutzingenieurwesens eröffnet. Zwischen den Verfahrensbeschreibungen und den Verfahrensausführungen in den Abschnitten 6, 7 und dem Anhang 1, da stehen sogenannte allgemeine Anforderungen, die alles andere sind als allgemein, sondern das sind spezielle Brandschutzanforderungen für den Industriebau, die sich von den Brandschutzanforderungen der Landesbauordnungen unterscheiden und von daher ein ganzes Spektrum an einzelnen Brandschutzkriterien abdecken.
André Gesellchen: Wie entscheidet sich jetzt in der Planung eines Industriebauprojektes, nach welchem Abschnitt man vorgeht?
Dr. Jürgen Wiese: Zunächst wird man in die beabsichtigte Gebäudegröße gucken und sehen, ob man mit den begrenzten Flächenmöglichkeiten, die der Abschnitt 6 bietet, das Gebäude konzipieren kann oder nicht. Mit diesem vereinfachten Verfahren sind Flächen bis zu 10.000 Quadratmeter Brandabschnittsfläche möglich, was dazu führt, dass circa 90 Prozent aller Industriebauvorhaben über dieses Verfahren ohne DIN 18230 gehändelt werden können und bauaufsichtlich geprüft und genehmigungsfähig bearbeitet werden können. Wenn man größere Flächen braucht als Brandabschnitte oder als Brandbekämpfungsabschnitte, dann ist man auf das Verfahren nach Abschnitt 7 mit Benutzung der DIN 18230 angewiesen. Das vereinfachte Verfahren nach Abschnitt 6 ist relativ konservativ in den baulichen Vorschriften. Es basiert auf der Bildung von Brandabschnitten. Es sieht nur Geschosse vor mit raumabschließenden, feuerwiderstandsfähigen Geschossdecken. Während im Abschnitt 7-Verfahren wir Brandbekämpfungsabschnittsflächen ermöglichen, im Regelverfahren bis zu 60.000 m² im eingeschossigen Bereich und bis zu 30.000 m² im mehrgeschossigen bzw. mehrebenigen Bereich. Das Stichwort Ebene ist gebunden an die Bewertung des Gebäudes nach Abschnitt 7 mit der DIN 18230. Da braucht man eine differenziertere Vorgehensweise als nach dem vereinfachten Pauschalverfahren des Abschnitts 6.
André Gesellchen: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann man den größten Teil der Industriebauten nach diesem vereinfachten Verfahren, Abschnitt 6, ganz gut behandeln. Wenn es dann wirklich große Brandabschnitte geben soll oder andere Besonderheiten, dann komme ich in den Bereich von Abschnitt 7. Heißt das auch, dass man dafür wirklich spezielle Kenntnisse braucht, Abschnitt 7 dann anzuwenden mit den entsprechenden Berechnungen? Also setzt das andere Kompetenzen auch voraus?
Dr. Jürgen Wiese: Ja, zunächst mal muss einem klar sein, dass die großen Flächen, die mit dem Verfahren des Abschnitts 7 ermöglicht werden, Einschränkungen bei der Nutzung des Gebäudes verknüpft sind. Und das bezieht sich insbesondere auf die zulässige Höhe der Brandlasten. Und von daher spielen die Brandlasten, die in einem Industriebau vorhanden sind, die maßgebliche Rolle auch im Rechenverfahren der DIN 18230. Und die einfache Denkart ist die, dass wenn ich wenig Brandlasten in einem Gebäude habe, dann ist es mit der Brandgefahr und mit den Brandszenarien nicht ganz so schlimm, als wenn ich ganz viele Brandlasten in einem Gebäude habe. Bei weniger Brandlasten kann ich mir auch größere Flächen und Lösungen mit weniger Feuerwiderstand denken. Deshalb muss auf der einen Seite der Nutzer wissen, dass diese großen Erleichterungen, die im Abschnitt 7-Verfahren möglich sind, gekoppelt sind grundsätzlich an weniger hohe Brandlasten und an eine fachkundige Beurteilung der Brandszenarien mit dem Rechenverfahren der DIN 18230. Und dieses Rechenverfahren ist nicht nur eine Rechenvorschrift, sondern damit ist auch verbunden, dass der Anwender dieser Norm versteht, wie die Norm aufgebaut ist und was die Norm wie bewertet und wie das System ingenieurtechnisch auch funktioniert.
André Gesellchen: Da gehe ich also nicht als junger Brandschützer direkt bei meinem ersten Projekt ran und traue mich, nach Abschnitt 7 ein Konzept zu entwickeln, sondern das ist schon was für erfahrene Leute, wenn ich sie richtig verstehe.
Dr. Jürgen Wiese: Ja, die Erfahrung alleine reicht aber auch nicht aus. Man muss das Regelwerk verstehen und man muss andere Erfahrungen haben, als wenn man nur präskriptive Bauvorschriften nach dem Motto „ich baue das, was vorgeschrieben ist“ aufschreibt, sondern man muss verstehen, wie Szenarien ablaufen und wie die Brandwirkungen im Gebäude sich entwickeln und wie die Sachen miteinander im Zusammenhang stehen und wie sich Wechselwirkungen auch abspielen und wie man die beurteilen kann.
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André Gesellchen: Ich würde gerne an einer Stelle auch nochmal nachfragen: Sie sagten ja, dass die Menge der Brandlasten ein ganz wichtiger Faktor ist bei dem Verfahren nach Abschnitt 7. Ja, kenne ich die denn als Planer in dem Stadium, in dem ich mich da bewege, schon so genau? Ist die Nutzung schon in so vielen Details auch bekannt? Und wie gehe ich damit dass die sicher auch ändern kann im Betrieb?
Dr. Jürgen Wiese: Das ist eine wichtige Frage. Die Information über die zu erwartenden Brandlasten bekommt man bei der Planung natürlich zunächst von demjenigen, der das Gebäude später nutzen will. Der weiß in der Regel, was er mit seinem Gebäude vorhat und was er in das Gebäude einbringen kann. Was der spätere Nutzer oder der Bauherr an der Stelle weiß, reicht in der Regel aber nicht aus, das, was tatsächlich im Gebäude zu erwarten ist, vollständig zu beschreiben. Von daher hat der Brandschutzplaner die Möglichkeit, sich entweder in ähnlichen Betriebsteilen, die bei dem Bauherrn schon bestehen, umzugucken und dann zu sehen, wie sieht es denn grundsätzlich in dem Betrieb tatsächlich aus, um sich ein bisschen zu lösen von der Liste der Informationen, die einem der künftigen Nutzer mitgibt. Und man kann sich als erfahrener Brandschützer auch an seine sonstigen, bisherigen Gutachten wenden und dort gucken, wie er denn bestimmte Fabrikationslager und andere Teile in ähnlichen Objekten schon beurteilt hat. Und er kann diese Erfahrungen dann mit seinem Bauherrn besprechen, um zu gucken, ob da Informationen sind, die eigentlich der Nutzer auch wissen und kommentieren könnte.
André Gesellchen: Gibt es dann auch noch mal so etwas wie einen Sicherheitsaufschlag, so einen Puffer, den man noch mal oben drauf rechnet?
Dr. Jürgen Wiese: Es gibt natürlich einen Puffer, der von dem Brandschützer im eigenen Ermessen eingeführt wird. Das sind dann Zuschläge als Schätzunsicherheitszuschläge. Je nachdem, welchen Eindruck man bei der Brandlastaufnahme von der Qualität und Güte der Informationen hat, muss man bei der einen Brandlastaufnahme einen größeren Zuschlag machen, vielleicht 20 Prozent, und beim anderen nur 10 Prozent. Aber das sind Schätzunsicherheiten, die damit abgedeckt werden. Das ist kein Sicherheitszuschlag, weil im Bemessungsverfahren der DIN 18230 gibt es ein sehr spezielles und sehr ausgewogenes Sicherheitskonzept, was auch diesen Namen verdient und so heißt. Und hier reden wir wirklich von Schätzunsicherheiten, die der Brandschutzplaner in dieser Phase der Arbeit zu bewältigen und zu beurteilen hat. Und da gibt es halt eben Angstzuschläge oder Unsicherheitszuschläge, je nachdem, welchen Eindruck man von der Güte der Daten und Erkenntnisse hat, die einem auf diesem Weg so begegnet sind.
André Gesellchen: Vielleicht dann noch mal zurück in den häufigeren Bereich nach Abschnitt 6, wo Sie ja sagten, so ungefähr 90 Prozent der Projekte sind da eigentlich gut aufgehoben. Wo sind denn da typische Fehlerquellen dann noch versteckt? Gibt es da so Punkte, wo Sie wiederkehrend sehen, dass da in den Konzepten doch noch Unklarheiten herrschen?
Dr. Jürgen Wiese: Also eigentlich gibt es in dem Verfahren keine Möglichkeiten für große Fehler. Was ich von dieser Stelle sagen möchte, ist, dass das Verfahren nach Abschnitt 6, wo ich ja wie gesagt mit der DIN 18230 vordergründig gar nichts mehr zu tun habe, dieses Verfahren aber aus der DIN 18230 heraus entwickelt worden ist. Und man muss deshalb die Randbedingungen und Anwendungsgrenzen dieses Verfahrens auch beachten. Das gilt insbesondere für die hier zugelassenen Flächen. Wir haben die Flächen, die mit dem vereinfachten Verfahren zulässig sind, aus dem Verfahren nach Abschnitt 7 abgeleitet. Das System des Abschnitts 6 und des Abschnitts 7 basieren auf dem gleichen Sicherheitskonzept. Dieser Zusammenhang ist für den normalen Nutzer nicht erkennbar. Es ist aber so. Von daher kann man über die Flächen, die im Abschnitt 6 zugelassen sind, nicht so einfach diskutieren oder Abweichungen beantragen, weil die Kriterien zur Festlegung der zulässigen Flächen nach den Aspekten des Abschnitts 7 erfolgt sind. Das ist also keine Verhandlungsgeschichte, wo man irgendwie kungeln könnte, sondern die Obergrenzen der zulässigen Flächen sind dort schon verbindlich und wenn man mehr Flächen in Anspruch nehmen will, dann ist man auf das Verfahren nach Abschnitt 7 angewiesen. Wenn Sie schon nach häufigen Schwierigkeiten fragen, dann ist es der Umgang mit den zulässigen Flächen, weil man doch gerne ohne die Berechnungen nach Abschnitt 7 im vereinfachten Verfahren des Abschnitts 6 noch größere Flächen genehmigt haben möchte, als die Tabelle im Abschnitt 6 eigentlich hergibt.
André Gesellchen: Sie haben ja gerade schon mal einige Begriffe erwähnt aus der Industriebaurichtlinie und da gibt es ja auch einen eigenen Abschnitt, der Begriffe erklärt. Wir wollen das jetzt ja gar nicht im Einzelnen alles durcharbeiten. Das kann man alles wunderbar nachlesen, auch in Ihrem Kommentar, aber vielleicht mal exemplarisch. Brandabschnitt. Brandbekämpfungsabschnitt. Was ist der Unterschied?
Dr. Jürgen Wiese: Ein Brandabschnitt ist ein Gebäudeteil, der klassisch begrenzt wird durch Brandwände. Eine Brandwand ist eine massive Wand, die vom Fundament bis über das Dach reicht und da möglichst geradlinig von unten nach oben hochgezogen wird. Der Brandbekämpfungsabschnitt ist ein Teil eines übergroßen Brandabschnitts. Wenn wir jetzt meinetwegen sagen, wir haben einen Brandabschnitt, der ist 200.000 m² groß, und den unterteile ich durch andere Wände, das sind dann die Brandbekämpfungsabschnittstrennwände, in kleinere Bereiche. Dann habe ich einen riesigen Brandabschnitt, der dann aber in der Industriebau-Richtlinie gar nicht mehr die entscheidende Rolle spielt, sondern die kleineren Gebäudeteile, die Brandbekämpfungsabschnitte, die zwischen den Brandwänden mit Brandbekämpfungsabschnittstrennwänden konzipiert werden. Diese Brandbekämpfungsabschnittstrennwände dürfen anders als die Brandabschnitte auch zwischen den Geschossen versetzt werden. Die Brandbekämpfungsabschnittstrennwände müssen allerdings wie die Brandwände in F90-AM errichtet werden und über das Dach gehen. Das ist bei beiden gleich. Es gibt die Unterscheidung, dass die Brandwände immer feuerbeständige Schottungen haben müssen, also feuerbeständige Türen, Leitungsdurchführungen und ähnliches, während diese geschützten Öffnungen in der Brandbekämpfungsabschnittstrennwand je nach der Berechnung nach DIN 18230 auch mit weniger Feuerwiderstandsfähigkeit errichtet werden und eingebaut werden dürfen.
André Gesellchen: Das ist dann ja schon ein wichtiger Unterschied, weil das letztendlich auch Auswirkungen auf die Baukosten hat an der Stelle.
Dr. Jürgen Wiese: Der ganz wesentliche Unterschied sind aber andere Konsequenzen. In einem Brandabschnitt, der nach dem Verfahren Abschnitt 6 beurteilt wird, gibt es im Geschossbau nur Geschosse mit Geschossdecken und das sind raumabschließende standsichere Decken. Während in den Brandbekämpfungsabschnitten sind auch Ebenendecken zulässig und Ebenendecken sind zwar im Brandfall auch zuverlässig standsicher, aber nicht raumabschließend, sodass sich Feuer und Rauch über die Ebenen hinaus ausbreiten können. Und damit sind noch viel weitergehende Kosteneinsparungen und flexiblere Nutzungen möglich. Aber das geht eben nur im Verfahren nach Abschnitt 7 mit der Berechnung nach DIN 18230.
André Gesellchen: Die Industriebaurichtlinie, die kennt ja noch eine andere Weichenstellung, nämlich die sogenannten Sicherheitskategorien. Es gibt sie nur im Industriebau. Ich habe die noch in keiner anderen Richtlinie gesehen. Warum wurden die hier eingeführt und wie funktioniert dieses Werkzeug der Sicherheitskategorien?
Dr. Jürgen Wiese: Die Sicherheitskategorien wurden erstmalig erfunden für die Löschwasserrückhalterichtlinie vor circa 40 Jahren nach dem Sandoz-Unfall und die Industriebaurichtlinie hat sich dann dieses Werkzeuges bedient. Mit den Sicherheitskategorien werden die anlagentechnischen und betrieblichen Brandschutzmaßnahmen klassifiziert. Da haben wir in der niedrigsten Stufe quasi den normalen Brandschutz, das heißt wir haben eine öffentliche Feuerwehr in den Gemeinden, aber ansonsten nichts zusätzliches, was an Brandschutzanlagen dazu käme. In der Kategorie 2 kommt eine Brandmeldeanlage dazu, die auf die Feuerwehr aufgeschaltet wird und die damit ermöglicht, dass die öffentliche Feuerwehr recht zügig und schnell am Brandort erscheinen kann und mit der Brandbekämpfung beginnen kann. Die Sicherheitskategorie K3 befasst sich mit Werkfeuerwehren. Die müssen nach Landesrecht anerkannt sein und bieten ein noch schnelleres Eingreifen. Für die Werkfeuerwehr ist die Brandmeldeanlage Voraussetzung. Und die höchste Kategorie 4, das sind die automatischen flächendeckenden Feuerlöschanlagen. Da haben wir im Prinzip das Löschmittel direkt schon vor Ort anstehend und wenn da der Brand eine gewisse Stärke erreicht hat, dann beginnt das Löschen selbstständig. Und deshalb ist mit aufsteigenden Sicherheitskategorien auch immer mehr Erleichterung im baulichen Brandschutz möglich, sei es eine Reduktion der Feuerwiderstandsfähigkeit der Bauteile, aber auch die Zulässigkeit von großen Flächen.
André Gesellchen: Ist es dann die freie Entscheidung des Planers, welche Sicherheitskategorie er dort anlegt? Wenn er sich beispielsweise dann Erleichterungen verschaffen will, geht er eine Stufe höher an anderer Stelle oder wie funktioniert die Kategorisierung eines Projektes?
Dr. Jürgen Wiese: Ja, der Bauherr ist zunächst mal Herr seines Verfahrens. Der entscheidet, was er bauen will und wie er sein Gebäude mit Brandschutz ausstatten will. Und wir gucken dann anhand der rechtsverbindlichen Vorschriften, ob das, was der Bauherr so plant, ausreicht, die öffentlich-rechtlichen Schutzziele zu erreichen. Und dafür ist der Maßstab die Industriebaurichtlinie. Also dem Bauherr steht es frei, ob er kleine Brandabschnitte mit viel baulichem Brandschutz, aber ohne Anlagetechnik haben will, oder ob er in ein Konzept einsteigen will, wo er mit verhältnismäßig wenig baulichem Brandschutz, aber dafür mit mehr anlagetechnischem Brandschutz ins Rennen gehen will.
André Gesellchen: Wohin geht der Trend?
Dr. Jürgen Wiese: Das ist von Fall zu Fall vollständig unterschiedlich. Was ich so beobachte, ist, dass der Einbau einer Brandmeldeanlage von den Bauherren hingenommen wird oder akzeptiert ist. Bei Sprinkleranlagen halten sich die Bauherren schon eher zurück. Werkfeuerwehren ist was Spezielles, was in speziellen Industriebereichen Standard ist, aber in anderen kommt es eben gar nicht vor. Aber wie der Bauherr seinen Industriebau konzipiert, ob mehr baulich oder mehr anlagetechnisch, das ist allein seine Entscheidung.
André Gesellchen: Das heißt, die Richtlinie an sich bietet da viel Flexibilität auch, entsprechend dann die richtige Lösung oder auch verschiedene Lösungen für ein Projekt zu finden. Ist sie denn im Kern auch wirklich ein flexibles Werkzeug, um Schritt zu halten mit den sich ändernden Nutzungen, die wir haben und auch mit den Anforderungen der Industrie, die sich ja auch stark wandeln?
Dr. Jürgen Wiese: Die Industriebaurichtlinie ist ja so konzipiert gewesen von Anfang an, dass sie den großen Unterschieden, die es im Industriebau gibt, auch ausreichend nachkommen kann. In der Grundphilosophie der Industriebaurichtlinie ist sogar die Abweichung von der Industriebaurichtlinie der Regelfall. Wir hatten von Anfang an immer im Hinterkopf, dass der Anwender der Richtlinie mit der Richtlinie ein verbindliches Leitsystem hat, aber er sollte nie sklavisch an die Richtlinie gebunden werden. Mittlerweile hat sich der Umgang mit Abweichungen von der Industriebaurichtlinie durch die neuen Formulierungen in der VVTB doch erheblich verschärft. Aber gleichwohl ist der Grundgedanke, dass man von der Industriebaurichtlinie Abweichungen begründen können muss, um den ganz vielschichtigen Anforderungen des Industriebaus gerecht zu werden. Das ist nach wie vor Standard und da sollten sich die Behörden eben nicht quer stellen. Sie fragen, ist die Richtlinie flexibel genug, dann muss ich sagen, ja, wir haben über die Jahre immer so gedacht. Die Praxis sieht häufig anders aus. Häufig stößt man auf Behörden, die gerade bei Neubauvorhaben sagen, Du baust ein neues Haus und hier ist die Richtlinie. Bitte halte dich bei Abweichungsanträgen zurück und mehr als so und so viele Abweichungen wollen wir hier in unserer Stadt sowieso nicht genehmigen. Solche Sichtweisen decken sich nicht mit der Regelabsicht der Industriebaurichtlinie. Aber es muss jedem klar sein, dass man mit der Industriebaurichtlinie Schutzziele zu verfolgen hat und diese Schutzziele auch mit einer angemessenen Zuverlässigkeit zu erreichen hat. Und von daher kann man jetzt nicht das Instrument der Industriebaurichtlinie nutzen, um den erforderlichen Brandschutz einfach wegzudiskutieren oder mit geschickter Rechnung nach DIN 18230 zu versuchen, ein nicht mehr gerechtfertigtes Minimum an Brandschutzmaßnahmen auszuloten. Sondern die Richtlinie ist ein Werkzeug in den Händen von Fachleuten, die sich darüber im Klaren sind, was man mit dem Brandschutz eigentlich zu bewerkstelligen hat und wie zuverlässig dieser Brandschutz dann auch funktionieren muss.
André Gesellchen: Sie sagten ja eben, dass es auf Behördenseite manchmal Widerstand gibt gegen Abweichungen. Ist denn da das Prüfingenieurwesen, das sich ja doch auch in mehreren Bundesländern jetzt immer mehr durchsetzt, ist das etwas, was dem entgegenwirkt aus Ihrer Sicht?
Dr. Jürgen Wiese: Das bleibt noch abzuwarten. Da kann ich persönlich jetzt nicht über viel Erfahrung mit Prüfingenieuren und den Auseinandersetzungen zwischen Prüfingenieur und Aufsteller reden. Grundsätzlich ist es aber zwingend erforderlich, dass wenn die Anforderungen an ein Konzept größer werden, dass man das Vier-Augen-Prinzip durchzieht. Das heißt, die Entscheidungen können nicht nur auf den Schultern einer Person oder eines Planers entstehen, sondern hier braucht man eine Auseinandersetzung mit einem unabhängigen anderen, der das Ganze prüft. Ich habe schon Vertrauen in dieses System, dass wenn sich Fachleute unterhalten und auch unterschiedlicher Meinung sind, dass die in der Diskussion zu vernünftigen Ergebnissen kommen. Was ich persönlich nicht so gut finde, was aber mit dem Regelverfahren durchaus verbunden ist, das ist der eine prüft das, was man angeliefert kriegt und nimmt dann ohne, dass man miteinander redet, dazu Stellung. Für mich wäre wichtig, dass man bei der Beurteilung der Planung eines anderen diese Planung des anderen auch versteht, nachvollzieht und dann der Planung des anderen als Prüfingenieur nicht seinen eigenen Stempel aufdrücken möchte, dass man sagt, „dieses Gebäude hätte ich als Planer aber anders gebaut und hier ist nur das richtig, was ich denke“, sondern man muss sich als Prüfer in die Gedankenwelt des anderen einbringen und da muss man sich halt eben wirklich selber auch ein Stück zurücknehmen mit seiner eigenen Kompetenz. Aber damit ist zwingend auch irgendwann mal die Auseinandersetzung und das Gespräch zwischen diesen beiden Personen erforderlich. Und dann glaube ich, dass aus Aufstellung und Prüfung was Vernünftiges rauskommt.
André Gesellchen: Das war ja fast schon ein schönes Schlusswort. Aber lassen Sie uns zum Abschluss noch mal auf die Entwicklung der Richtlinie auch schauen. Die vorletzte Fassung war von 2014, wenn ich mich nicht irre. Dann von 2019 stammt jetzt die aktuell gültige Fassung. Da waren also einige Jahre dazwischen. Diesen Turnus haben wir jetzt fast wieder abgeschlossen. Ende 2024 unterhalten wir uns jetzt gerade. Ist da schon wieder eine Novelle im Horizont erkennbar oder sehen Sie Anlass dafür?
Dr. Jürgen Wiese: Also mir ist nichts bekannt darüber, dass neue Arbeiten anstehen. Aber vom Grundsatz her denke ich, es gibt zurzeit noch ein großes, offenes Feld, das nicht bearbeitet ist mit der Richtlinie. Das ist der Umgang mit Regalen, insbesondere mit begehbaren Regalen und ähnlichen Situationen. Da könnte oder sollte man etwas tun. Zurzeit behilft man sich dort mit Einzelfallplanungen, wo man besondere Risiken durch eine Verbesserung des anlagetechnischen Brandschutzes ermöglicht, insbesondere was die Löschtechnik anlangt. Aber grundsätzlich ist die Industriebaurichtlinie gewachsen, auch dadurch, dass die Industrie ihre Belange, ihre Bedürfnisse hat einbringen können. Und gerade auch mit der letzten Novellierung zwischen 2014 und 2019 hat es entscheidende Vereinfachungen gegeben. Restriktive Regelungen, die geknüpft gewesen sind an sogenannte erdgeschossige Industriebauten, sind erheblich gelockert worden, indem man diesen Begriff und diese Begrenzung aufgelöst hat und man hat stattdessen die Regelungen ermöglicht für alle eingeschossigen und nicht nur für die erdgeschossigen Industriebauten. Wir haben dem Holzbau auch im vereinfachten Verfahren des Abschnitts 6 eine weitere Anwendungsmöglichkeit eingeräumt. Und wir haben für die übergroßen Industriebauten, die im Abschnitt 7 als eingeschossige Hallen möglich sind, den Druck genommen, Feuerwiderstandsklassen oder Feuerwiderstandsfähigkeiten berechnen zu müssen. Dort können Sie jetzt also sehr, sehr große Hallen ohne klassifizierten Feuerwiderstand bauen. Da ist dann aber die Standsicherheit durch die Vorsorge vor einem progressiven Gebäudeversagen in Form von kinematischen Ketten durch den Statiker entsprechend nachzuweisen, aber nicht mehr über klassifizierbare oder erforderliche Feuerwiderstandsdauern.
André Gesellchen: Da verstehe ich Sie so, dass wesentliche Fortschritte eigentlich bei der letzten Novellierung schon gemacht wurden. Vielleicht noch ein Blick über den Tellerrand oder über die Landesgrenzen hinaus. Wie gehen andere Länder an den Industriebau oder an den Brandschutz im Industriebau heran? Gibt es da vollkommen andere Ansätze oder ist das so Ihres Wissens nach eigentlich ähnlich in anderen Ländern?
Dr. Jürgen Wiese: Ich denke, dass Länder, die später anfangen, die Chance haben, modernere Wege von Anfang an zu beschreiten. Aber die sind auch immer an die Randbedingungen ihrer nationalen sonstigen Richtlinien und Regeln gebunden. Die Österreicher gehen mit ihrer Vorschrift einen Weg, der der Industriebaurichtlinie und der DIN 18230 nicht ganz unähnlich ist. Die haben aber andere Definitionen für bestimmte Brandschutz-Dinge, sodass sich das nicht eins zu eins vergleichen lässt. Und in der Schweiz sieht es so aus, dass die Schweizer Kollegen bis 2026, 27 ihr gesamtes bauordnungsrechtliches Regelwerk komplett überarbeiten wollen und da konsequent auf risikoabhängige Vorschriften umstellen wollen. Und das ist ein sehr flexibler und sehr moderner Weg, der für die Schweiz aber auch den Sachwertschutz viel höher bewertet und das, was bei uns in Deutschland aufgeteilt ist zwischen öffentlich-rechtlichem, wie wir es in der Industriebaurichtlinie handhaben, und dem privatrechtlichen, der eher über das Versicherungsrecht privatwirtschaftlich abgedeckt ist, das ist in der Schweiz viel enger aneinander gebunden und miteinander kombiniert, sodass deren Kriterien auch sich deutlich unterscheiden von dem, was wir hier in Deutschland haben.
André Gesellchen: Ein großes Dankeschön an Sie, Dr. Jürgen Wiese, für das heutige interessante Gespräch und auch dafür, wie viel Zeit und Herzblut Sie jahrzehntelang in die Weiterentwicklung dieses Themenbereichs gesteckt haben. Ich weiß, Sie haben vielen Leuten auch weitergeholfen, auch so bilateral beim Lösen ihrer Probleme in Brandschutzprojekten.
Dr. Jürgen Wiese: Ja, ich hoffe, ich konnte ein bisschen beitragen, den Podcast nach vorne zu tun und die einen oder anderen Fragen, die sich vielleicht ihren Hörern aufdrängen, ein bisschen Informationen oder Anregungen mitzugeben.
André Gesellchen: Ich freue mich, dass Sie da waren. Und das war FeuerTrutz On Air für heute mit einem intensiven Blick auf die Muster-Industriebau-Richtlinie und die Werkzeuge, die sie für die Planung bereithält. Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, abonnieren Sie gerne unseren Podcast, um keine der weiteren Episoden zu verpassen. Schreiben Sie uns auch, wenn Sie Themenvorschläge oder Fragen haben, die wir in den nächsten Folgen aufgreifen sollten. Wir bleiben auf jeden Fall dran an den wichtigen Themen des Brandschutzes und freuen uns, auch beim nächsten Mal begrüßen zu dürfen. Wenn Sie tiefer einsteigen wollen in unser heutiges Thema, dann empfehle ich Ihnen den „Kommentar zur Muster-Industriebau-Richtlinie“, der 2024 in der zweiten Auflage erschienen ist von unserem heutigen Gast, Dr. Jürgen Wiese, und Josef Mayr. In diesem Sinne bis zum nächsten Mal. Ich wünsche Ihnen alles Gute und bleiben Sie sicher.
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